Im Frühjahr 1947 entdeckte ein Beduine am Nordwestufer des Toten Meeres in der Nähe von QUMRAN eine Höhle mit antiken Schriftrollen. Er löste damit die grösste archäologische Sensation des 20. Jahrhunderts aus.
Die Aufnahme zeigt die Höhle 1Q (= 1. Höhle von Qumran mit Textfunden) von innen. Die kleine obere Öffnung ist der Originaleinstieg in die Höhle. Die untere Öffnung wurde später von den Beduinen angelegt, um die Höhle leichter ausplündern zu können. In der Höhle befanden sich mehrere mit einem Deckel verschlossene Tonkrüge, die Schriftrollen aus Leder enthielten. Das Lagern von Schriftrollen in solchen Tonkrügen wird schon in Jeremia 32,14 erwähnt: „So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Nimm diese Briefe, den versiegelten Kaufbrief samt dieser offenen Abschrift, und lege sie in ein irdenes Tongefäß, damit sie lange erhalten bleiben.“
Insgesamt sieben Schriftrollen sind heute aus dieser 1. Höhle bekannt, darunter gleich zwei Rollen mit dem Text des Propheten Jesaja.
Das Geheimnis der Schriftrollen von Qumran
Es wird immer im Dunkeln bleiben, warum Muhammed edh-Dhib vom Stamm der Ta’amira-Beduinen im Frühling 1947 den Steilhang an der Westküste des Toten Meeres hinabkletterte. Suchte er wirklich seine Ziege, die ihm angeblich weggelaufen sei, wie er später immer wieder erzählte, und die er durch Steinwürfe aufschrecken wollte? Oder hielt er Ausschau nach einem passenden Versteck für seine Schmuggelware, die die Beduinen in jenen Tagen von Jordanien nach Palästina brachten? Der Grund seiner Steinwürfe ist eigentlich unwesentlich – wichtig ist, dass er damit einen Stein ins Rollen gebracht hat, der bis heute weltweit Forscher und die breite Öffentlichkeit in Atem hält.
Als Muhammed etwa 1,5 km nördlich von der uralten Ruine Qumran entfernt eine besonders kleine Höhlenöffnung entdeckte, warf er auch hier einen Stein hinein. Er hörte, wie Ton zersprang. In der Höhle erblickte er 50 Tonkrüge, die sorgsam aufgereiht an der Wand standen. Einer der 60 cm hohen Tonkrüge war durch seinen Steinwurf kaputtgegangen. Sollte er einen verborgenen Schatz entdeckt haben? Aber welche Enttäuschung! Lediglich einige fürchterlich verklebte und angeschwärzte Lederrollen konnte er in den Tonkrügen finden, die er später im Lager genauer untersuchte. Mit den Schriftzeichen auf den alten Rollen wusste keiner seiner Stammesbrüder etwas anzufangen. Die Beduinen ahnten nicht, dass sie einen Schatz in den Händen hielten – wertvoller als alles Gold und Silber. Monate später gelang es ihnen, ihren Fund an Erzbischof Athanasius Yeschue Samuel von der syrisch-orthodoxen Gemeinde zu verkaufen. Der Kaufpreis: 92.– $. Einige Jahre später bezahlte der Staat Israel dem Bischof 250.000 $ für seine Rollen! Monatelang versuchte der Erzbischof herauszubekommen, was er eigentlich angekauft hatte, da er die alten Schriftzeichen nicht entziffern konnte. Als er im Februar 1948 auf den jungen amerikanischen Bibelgelehrten Dr. Trever stieß, erkannte dieser sofort, dass es sich bei den Schriftrollen um einen wahren Bibelschatz handelte.
Die längste der Schriftrollen stellte sich als eine Abschrift des Prophetenbuches Jesaja heraus. Aus der Form der Buchstaben konnte man schließen, dass die Rolle aus dem 1. oder 2. Jahrhundert v.Chr. stammen musste. Mit dieser Schriftrolle lag die älteste komplette Abschrift eines Bibelbuches auf Hebräisch vor. Der Traum aller Textforscher ging damit in Erfüllung. Die Datierung der Jesajahandschrift auf das 2. Jh. v.Chr. ist 1991 und 1994 durch radioaktive Tests bestätigt worden. Bis heute stellt die sogenannte große Jesajarolle vom Toten Meer eine Sensation dar. Bis zu den Qumranfunden stammte die älteste vollständige hebräische Bibelhandschrift erst aus dem 10. Jahrhundert nach Christus (der sog. Codex Leningradensis). Durch die große Jesajarolle lässt sich der Text um über 1.000 Jahre weiter zurückverfolgen.
Die Masoreten waren jüdische Schriftgelehrte, die über Jahrhunderte den Text der jüdischen Bibel (den Tanach; unser Altes Testament) überliefert hatten. Man war sich allerdings nie ganz sicher, wie zuverlässig der übliche abgedruckte Text des Alten Testaments tatsächlich war, der auf diesen masoretischen Texten beruhte. Ein tausendjähriger Überlieferungsprozess ist verständlicherweise mit vielen Problemen behaftet. Wie viele Schreiber hatten wohl in den Jahrhunderten den Text immer wieder abgeschrieben? Konnte man sich sicher sein, dass die Abschreiber nicht trotz großer Sorgfalt Fehler begangen hatten? Mit der Jesajarolle aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. hatte man nun ein komplettes Bibelbuch aus dem Alten Testament vorliegen, das um über 1.000 Jahre älter ist als die mittelalterlichen Handschriften. Eine absolute Sensation! Über 1.000 Jahre Textgeschichte konnte man nun auf einen Schlag untersuchen. Kaum war die Entdeckung der Jesajarolle bekannt geworden, da schrieben die Zeitungen: «Jetzt wird sich zeigen, dass die Bibel schlecht überliefert ist. – Jetzt wird die Grundlage des Christentums erschüttert.» Die Jesajarolle wurde gleichsam zum Gradmesser für die Bibelüberlieferung. Es stellte sich aber heraus, dass der Text hervorragend überliefert worden ist.
In einigen Fällen konnte der «Urtext» des Prophetenbuches ermittelt werden. Schon lange machte Jesaja 21,8 den Übersetzern große Probleme. Im mittelalterlich überlieferten Bibeltext (dem sog. masoretischen Text) heißt es: «Und er schrie, ein Löwe: Auf einem Wachturm steh ich, o Herr …»
Eine andere Übersetzungsmöglichkeit: «Und ein Löwe schrie: Auf einem Wachturm steh ich, o Herr …» Spätere Übersetzungen und Revisionen haben versucht, der Stelle einen Sinn zu geben, indem sie ein «wie» einfügten: «Und er schrie wie ein Löwe.» So tun es beispielsweise die Lutherübersetzung 1912, die Schlachter-Bibel und die alte Elberfelder-Bibel. Wie schwer sich Übersetzer bis heute mit der Stelle tun, wenn sie ausschließlich dem klassisch überlieferten masoretischen Bibeltext folgen, zeigt die sonst so wortgetreue Übertragung des jüdischen Prof. Tur-Sinai. Bei ihm findet sich die (erklärende) Übersetzung: «Da ruft er: ‹der Löw (ist los)! Auf Ausschau steh ich Herr …›»
Was ein Löwe hier zu suchen hat, ist allerdings sehr schwer zu begreifen, da in Vers 6 zuvor berichtet wird wie Gott befiehlt: «Geh hin, stell einen Späher auf! Was er sieht, soll er berichten.» Durch die Jesajarolle von Qumran wurde nun ersichtlich, dass der «Löwe» durch das Vertauschen von Konsonanten vor vielen Jahrhunderten versehentlich entstanden war. Die Rolle aus Qumran bietet den ursprünglichen Text: «Und der es sah, schrie: Auf einem Wachturm steh ich, o Herr …» Eine andere Übersetzung lautet: «Da rief der Seher: Auf einem Wachturm …» Die verschiedenen Lesarten rühren daher, dass sich im Hebräischen die Worte «Löwe» (’RYH) und «der es sah» (HR’H) einigermaßen ähnlich sind im Schriftbild und Klang. Durch das Verwechseln zweier Konsonanten war aus «dem Seher» ein völlig aus der Luft gegriffener «Löwe» geworden. Da der Bibeltext für die jüdischen Abschreiber aber heilig ist, haben sie den offensichtlichen Fehler nicht verbessert!
Die große Jesajarolle von Qumran bietet gegenüber dem überlieferten masoretischen Text allerdings über 6.000 orthographische Varianten. Der Sinn des Textes wird dadurch selten beeinflusst, aber jegliche Theorie eines geheimen Bibelcodes scheitert hier, denn dazu müssten alle Texte identisch sein. Ein intensiver Vergleich der Qumranrolle mit mittelalterlichen Handschriften ergab insgesamt, dass der Inhalt des Prophetenbuches Jesaja ganz ausgezeichnet überliefert ist. Die kleinen Textunterschiede (wie Löwe/Seher) sind für Spezialisten interessant, die den «Urtext» der Bibel rekonstruieren. Grundaussagen der biblischen Botschaft werden dadurch aber an keiner Stelle berührt.
Neben dieser großen Jesajarolle wurde noch eine weitere – wesentlich schlechter erhaltene – Jesajahandschrift in der Höhle 1 entdeckt. Ihr Text weist kaum Abweichungen gegenüber dem masoretischen Text auf.