Allgemein | 12. September 2016
Jonathan Förster war körperlich und geistig leicht behindert zur Welt gekommen.
Als er zwölf Jahre alt war, ging er mit viel jüngeren Kindern zusammen in eine Klasse. Es hatte den Anschein, dass er einfach nicht lernen konnte. Oft brachte er seine Lehrerin Doris Müller schier zur Verzweiflung, wenn er sich auf seinem Stuhl hin und her wand, vor sich hinstierte und dabei grunzende Geräusche von sich gab……..
Es gab allerdings auch Augenblicke, in denen Jonathan klar und deutlich sprach – gerade so, als sei ein Lichtstrahl in die Dunkelheit seines Gehirns gedrungen.
Die meiste Zeit jedoch empfand es Doris als ausgesprochen unbefriedigend, Jonathan zu unterrichten. Eines Tages rief sie seine Eltern an und bat sie zu einem Gespräch in die Schule.
Als das Ehepaar schließlich in dem leeren Klassenraum schweigend vor ihr saß, eröffnete Doris ihnen:
„Jonathan gehört eigentlich in eine Sonderschule. Es ist nicht fair ihm gegenüber, dass er immer mit viel jüngeren Kindern zusammen sein muß, die zudem keine Lernprobleme haben. Schließlich ist er drei Jahre älter als seine Mitschüler!“
Frau Förster weinte leise in ihr Taschentuch, während ihr Mann das Wort ergriff: „Frau Müller“, sagte er zögernd, „es gibt hier in der Nähe keine derartige Schule. Für Jonathan wäre es ein furchtbarer Schock, wenn wir ihn aus seiner gewohnten Umgebung herausnehmen müssten. Ich weiß, dass es ihm hier in dieser Schule sehr gut gefällt.“
Nachdem Beide gegangen waren, saß Doris noch lange auf ihrem Platz am Fenster und starrte hinaus auf den neugefallenen Schnee. Seine Kälte schien langsam in ihr Herz hineinzukriechen. Einerseits empfand sie Mitleid mit den Försters. Schließlich hatten sie nur dieses eine Kind, und das war unheilbar krank. Aber andererseits war es einfach nicht zu verantworten, Jonathan in dieser Klasse zu lassen.
Außer ihm hatte sie ja noch 14 andere Kinder zu unterrichten, für die seine Anwesenheit nur eine ständige Ablenkung bedeutete. Außerdem – er würde sowieso nie lesen und schreiben lernen. Warum also sollte sie sich noch länger abmühen und ihre Zeit an ihn verschwenden?
Während Doris so über die ganze Situation nachdachte, wurde sie plötzlich von einem starken Schuldgefühl überfallen.
„O Gott“, sagte sie halblaut, „ich sitze hier und klage, während meine Probleme doch gar nichts sind im Vergleich zu denen dieser armen Familie! Bitte hilf mir, mehr Geduld mit Jonathan zu haben!“
Von nun an gab sie sich alle Mühe, Jonathans Geräusche und seine stierende Blicke einfach zu ignorieren. Eines Tages humpelte er plötzlich auf ihr Pult zu, wobei er sein lahmes Bein hinter sich her zog. „Ich liebe Sie, Frau Müller!“ rief er – laut genug, dass die ganze Klasse es hören konnte. Die Kinder kicherten, und Doris bekam einen roten Kopf. „A-also“, stammelte sie, „das ist ja sehr schön, Jonathan. A-aber setz dich jetzt bitte wieder auf deinen Platz!“
Der Frühling kam, und die Kinder unterhielten sich angeregt über das bevorstehende Osterfest. Doris erzählte ihnen die Geschichte von der Auferstehung Jesu, und um den Gedanken des hervorkeimenden neuen Lebens zu unterstreichen, gab sie abschließend jedem Kind ein großes Plastikei.
„Hört zu“, sagte sie, „ich möchte, dass ihr das Ei mit nach Hause nehmt und es morgen wieder mitbringt – mit etwas darin, was neues Leben zeigt. Habt ihr mich verstanden?“ „Na klar, Frau Müller!“ riefen die Kinder begeistert – alle außer Jonathan. Er hörte aufmerksam zu, seine Augen unverwandt auf ihr Gesicht geheftet. Nicht einmal seine gewohnten Grunzlaute waren zu hören.
Ob er wohl begriffen hatte, was sie über den Tod und die Auferstehung Jesu gesagt hatte? Und verstand er, welche Aufgabe sie den Kindern gestellt hatte?
Vielleicht sollte sie lieber seine Eltern anrufen und es ihnen erklären. Als Doris am späten Nachmittag nach Hause kam, stellte sie fest, dass der Abfluß in ihrer Küche verstopft war. Sie rief den Hausbesitzer an und wartete dann eine volle Stunde, bis er endlich kam und die Sache in Ordnung brachte. Anschließend mußte sie noch einkaufen, bügeln und einen Vokalbeltest für den nächsten Tag vorbereiten. So kam es, dass sie den Anruf bei Jonathans Eltern völlig vergaß………
Am folgenden Morgen stürmten ihre 15 Kinder aufgeregt in den Klassenraum, um den großen Weidenkorb auf dem Tisch ihrer Lehrerin mit den mitgebrachten Plastikeiern zu füllen. Aber erst nach der Mathematikstunde durften die Eier geöffnet werden.
Im ersten Ei befand sich eine Blume. „O ja“, sagte Doris, „eine Blume ist wirklich ein Zeichen des neuen Lebens. Wenn die ersten grünen Spitzen aus der Erde ragen, wissen wir, dass es Frühling wird.“
Ein kleines Mädchen in der ersten Reihe winkte heftig mit der Hand. „Das ist mein Ei, Frau Müller, das ist meins!“ rief sie dabei laut.
Das nächste Ei enthielt einen Plastik-Schmetterling, der richtig lebensecht aussah. Doris hielt ihn in die Höhe. „Wir wissen alle, dass aus einer hässlichen Raupe ein wunderschöner Schmetterling wird. Ja, auch das ist ein Zeichen für neues Leben!“
Die kleine Judith lächelte stolz und sagte: „Das ist von mir, Frau Müller.“
Als nächstes fand Doris einen Stein, mit Moos bewachsen. Sie erklärte der Klasse, dass Moos ebenfalls ein Beweis für Leben sei. Willi aus der letzten Reihe meldete sich zu Wort. „Mein Papa hat mir beim Suchen geholfen!“ verkündete er strahlend.
Doris öffnete nun das vierte Ei – es war merkwürdig leicht – und hole tief Luft: Das Ei war leer!
„Das ist bestimmt Jonathans“, dacht sie. „Natürlich hat er nicht verstanden, was er damit machen sollte. Hätte ich doch bloß nicht vergessen, seine Eltern anzurufen!“
Und weil sie ihn nicht in Verlegenheit bringen wollte, legte sie dieses Ei, ohne ein Wort zu sagen, beiseite und griff nach dem nächsten. Da meldete sich plötzlich Jonathan.
„Frau Müller“, sagte er, „wollen Sie denn nicht über mein Ei sprechen?“ Verwirrt gab Doris zurück: „Aber Jonathan – dein Ei ist leer!“ Er sah ihr offen in die Augen und meinte leise: „Ja, aber das Grab Jesu war doch auch leer!“
Eine ganze Weile sprach niemand ein Wort. Als die Lehrerin sich endlich wieder gefangen hatte, fragte sie: „Jonathan, weißt du denn, warum das Grab leer war?“
„O ja“, gab er zur Antwort, „Jesus wurde getötet und ins Grab gelegt. Aber dann hat ihn sein Vater wieder lebendig gemacht!“
Die Pausenglocke schrillte.
Während die Kinder aufgeregt nach draußen auf den Schulhof stürmten, saß Doris wie betäubt da und hatte Tränen in den Augen. Das Eis, das sich noch in ihrem Herzen befand, begann zu schmelzen. Dieser zurückgebliebene, rätselhafte Junge hatte die Wahrheit der Auferstehung besser verstanden als alle anderen Kinder.
Drei Monate später war Jonathan tot.
Die Leute, die in die Friedhofskapelle kamen, um von dem Entschlafenen Abschied zu nehmen, wunderten sich nicht wenig: Oben auf dem Sarg waren 15 leere Eierschalen zu sehen.
-Verfasser unbekannt (Teismann)